Olympia also. Und zwar ohne mich. Ich bin weder aktiv noch passiv dabei. Zu alt fürs Siegerpodest und zu eitel für die Zuschauertribüne. Der Schmerz über die verpasste Karriere ist einfach zu groß. Stand ich doch einst kurz davor, ein Marathon-Champion zu werden.
Wir schrieben das Jahr 2008, und ich hatte im Rahmen einer kleinen Lebenszäsur meine Couch gegen Laufschuhe, den Wodka durch Elektrolyt-Getränke und die Chips durch Energieriegel ersetzt. Dank ausgefeiltem Ernährungsplan hatte ich ruckzuck ordentlich abgespeckt und meinen ersten Halbmarathon bewältigt. Natürlich knapp unter zwei Stunden, alles andere wäre blamabel gewesen, ich lief schließlich nicht zum Spaß. Es war infolge auch keine Frage, dass nach der ersten Bewährungsprobe ein richtiger Marathon anstehen würde. 42,195 Kilometer! Und die natürlich auch unter vier Stunden, der magischen Grenze, die den Läufer vom Jogger unterscheidet. Mit ausgefeilten Trainingsplänen, immer hart an der Belastungsgrenze, versprach mein Trainer Klaus mich da durchpeitschen.
Indianer kennen keinen Schmerz
Laut meiner Laktat-Messung waren 3.45 Stunden möglich. Ich hing mich voll rein, ignorierte jegliche Signale, wie Muskelschmerzen, blutende Nippel, aufgescheuerte Schenkel und Oberarme. Es gab fortan in meinem Leben nur noch Laufen oder halbohnmächtig in der Ecke liegen. Ich rannte im Schnitt 100 Kilometer die Woche, immer hart an der Laktatgrenze und stets an der Schwelle zur Grippe, denn das Immunsystem schickt gerne deutliche Signale, wenn der gleiche Körper, der früher immer faul auf der Couch lag, plötzlich so aufdreht. Trotz einiger Einbrüche und Fieberschübe schaffte ich es pünktlich zum München Marathon fit zu sein. Da konnte eigentlich nichts mehr schiefgehen, bis zu 34 Kilometer hatte Klausi mich im Training schon erfolgreich durchgepeitscht, die restlichen acht Kilometer sollten dann auch kein Problem mehr sein. Zumal das anfeuernde Publikum einen ja auch schneller machen würde, wie Klausi meinte: „Das reißt du locker runter, Bub!“
Doping ist alles!
Vorher noch kurz auf die Marathon-Messe, Startnummer abholen, Konkurrenz beäugen und sich ein wenig mit dem Rest der Weltelite austauschen. Smalltalk unter Profis. Aber bitte keine Pasta-Party, wie all die anderen Unwissenden, denn meine Kohlenhydrate bestanden ausschließlich aus Bio-Gemüse und etwas Roggenbrot. Was mich allerdings trotzdem interessierte, waren all die vielen Doping-Mittelchen, die da feilgeboten wurden. Eine Vielzahl von Pulvern, Tabletten, Gels und Drinks – so eine Marathon-Messe sieht ein wenig aus wie ein großer Candy Store, mit ganz vielen Leckereien, die einen anleuchten, alle mit dem gleichen Versprechen: Ich mach‘ dich schneller!
Networking kann ja nicht schaden, oder?
Da konnte ich nicht anders, als mal hineinzuhören, was die denn alle so zu bieten hatten. Klausi hatte mir zwar alles gesagt, auch, dass ich maximal zwei Power-Gels in der zweiten Hälfte der Distanz bräuchte und sonst nichts außer Wasser. War ja auch alles über Monate Trainings-erprobt. Dass ich keine gezuckerten ISO-Getränke, Bananen oder Müsliriegel unterwegs zu mir nehmen durfte, weil mein Körper aufgrund der neuen Askese das nicht packte, hatte ich mehrfach erfahren müssen. Trotzdem, mal ein wenig austauschen unter Läufern, das konnte ja nicht schaden.
„Marathon? Nur mit acht Gels!“
Nach einem Dutzend Austäuschen war dann klar, dass gar nix mehr klar war. An irgendeiner Stelle hatte ich mir von irgendjemand einreden lassen, dass das mit den zwei Gels in der zweiten Hälfte viel zu wenig seien. Alle fünf Kilometer solle ich eins nehmen, gerade vor dem Hintergrund, dass ich ja im Alltag kaum Kohlenhydrate zu mir nehmen würde und weil es ja mein erster Marathon sei, das Wetter heute nicht optimal sei und überhaupt. Insgesamt acht Gels sollte ich nehmen, sonst hätte ich keine Chance. Ich war fertig mit den Nerven, Klausi war nicht aufzuspüren, der hatte noch 60 andere Patienten am Start. Was tun? Scheiß drauf, ich probier’s mit acht Gels, wenn die nichts taugen, dann schmeiß‘ ich sie halt unterwegs weg.
„Weißt du, beim Marathon erfriert man leicht…“
Das nächste Drama dann in der Umkleide: Es sei heute viel zu kalt, als dass man mit kurzen Hosen und kurzem Shirt laufen könne, meinte der Typ neben mir, der irgendwie aussah, als wisse er, wovon er spreche. Echt jetzt? Ja, er rate mir stark davon ab, zumal es später auch noch regnen solle und weil frieren beim Laufen noch viel gefährlicher sei als Überhitzen. Du Depp, was für ein Blödsinn. Egal, ich höre auf den Deppen und dackle, im langärmligen Thermo-Shirt und in langen Tights, mit acht Gels im Gürtel, zu meinem Startblock. Im Oktober bei 12 Grad Außentemperatur – um acht Uhr früh! Dort traf ich dann auch schnell ein paar bekannte Gesichter aus dem Training, die gerade über ihre Schnürsenkel dozierten.
Zum Pissen hält man nicht an
Läufer machen gerne aus allem eine Wissenschaft. Sogar aus dem Scheißen! Läufer-Guru Achim Achilles sinniert in einem seiner Bücher doch tatsächlich darüber, welche Laubsorte sich am besten zum Arschabwischen eignet, falls es einen unterwegs mal überkommt. Das Problem sollte sich heute nicht stellen, denn es gab Dixie-Klos entlang der Strecke. Obwohl auch da die Devise gilt: Nur im größten Notfall aufs Klo gehen, lieber laufen lassen, kostet sonst einfach zu viel Zeit.
Schnürsenkel entscheiden zwischen Gold und Silber
Ist klar, in die Hose schiffen, acht Gels schlucken und warm einpacken, dann kann mir nichts mehr passieren. Hätten diese Typen neben mir, nicht noch diese leidige Schnürsenkel-Diskussion geführt. Natürlich musste ich da reinhören. Was könnten denn die Schnürsenkel noch an meiner Ziel-Zeit verbessern? Na ja, es gelte gut abzuwägen, ob man die obere Öse besser mit binde oder nicht. Ob man lieber einen locker sitzenden Schuh hat, oder ob bei solch einer Distanz nicht alles doch lieber etwas fester sitzen solle. Zumal es ja vielleicht noch regnen solle und dann der Schuh nachgäbe und überhaupt lieber zu eng als zu locker und so. Was für ein Schwachsinn. Egal, ich höre auf die Luschen und binde mir die Schnürsenkel neu – bis zum oberen Loch, was ich noch nie getan hatte.
Zum gesunden Leben gehören ein paar Qualen
Dann der alles erlösende Startschuss, der erst mal ganz viel Druck abfallen ließ, die ganzen verwirrenden Fragen, Sorgen, Ängste, Nöte, alles weg. Jetzt hieß es nur noch funktionieren, Tempo einpendeln, Programm abspulen, zigmal geübt, jetzt kann nichts mehr schiefgehen. Fühlte sich dann auch gut an: Zuschauer, Applaus, Tröten, Frauen, die ihren Männern zu jubeln, Kinder, die den Papi anfeuerten, es war schön, Teil dieser Community zu sein. So geht gesundes Leben. Herrlich.
Nach fünf Kilometern dann die erste Tränke, normal hätte ich nicht mal Wasser gebraucht, weil mir nach lächerlichen fünf Kilometern schon lange nicht mehr warm wurde, aber gut, jetzt sollte ich ja mein erstes Gel nehmen, diese süße klebrige Paste, die mich umso vieles ausdauernder machen sollte. Also runter damit. Es klebte und schmeckte eklig süß. Becher Wasser hinterher und weiter ging’s, vorbei an den ganzen Familien, die ihre Liebsten anfeuerten.
Es gilt ans Klo und nichts ins Klo zu kotzen
Mittlerweile ist mir übel und ich kann mein geplantes Tempo nicht mehr halten. Also etwas Gas raus, zur Not halt keine 3.45, dann halt nur 3.50. Auf halber Strecke, also Kilometer 21, ist jeglicher Optimismus verloren. Ich leide, es tut weh und mir ist kotzübel. Aufs Dixie-Klo schaffe ich es nicht mehr. Ich kotze die Plastik-Hütte von außen an, alles raus, das ganze Gel, das Frühstück, wertvolle Flüssigkeit, einfach alles. Ich verliere mehr als nur ein paar Sekunden. Völlig dehydriert, keinerlei Treibstoff mehr im Körper, scheiße, aber egal, jetzt bloß nicht aufgeben, einfach weiter das Programm abspulen, nur noch Wasser trinken und bloß kein Gel mehr nehmen.
"Quäl dich, du Sau!"
Langstrecke ist immer Qual. Radrennprofi Udo Bölts, einst als Einpeitscher von Jan Ulrich im Team Telekom unterwegs, hat ein Buch darübergeschrieben. Titel: "Quäl dich, du Sau!" Benannt nach dem legendären Spruch, mit dem Bölts seinen schwächelnden Teamkapitän Jan Ulrich auf der 18. Etappe der Tour de France einst durch die Vogesen peitschte. Mein Trainer hatte den verbalen Einpeitscher gerne übernommen.
Warum liebt mich niemand?
Von Programm abspulen kann irgendwann keine Rede mehr sein, diese Rückschläge hatten alles enthebelt. Jetzt heißt es nur noch kämpfen. Es hat mittlerweile 20 Grad erreicht und mein Thermo-Oufit ist so pitschnass, dass es mich bremst, weil es so bleischwer ist. Ich, Idiot, hatte alles falsch gemacht. Es wird immer härter und immer einsamer, meine Laufkollegen sind lange auf und davon. Ich trabe der breiten Masse hinterher. Den Joggern, nicht den Läufern! Was für eine Schmach! Und immer wieder dieser dämliche Schilderwald an jeder Ecke. Lauf, Papi, lauf! Papa, Du bist der Beste! Papa, wir lieben Dich! Schatz, Du schaffst das! Manfred, Du Held! Mein Gott, bin ich eigentlich der Einzige, der hier nicht geliebt wird? Ich kämpfe mit den Tränen. Ach, wie schön wäre es jetzt auf der Couch zu liegen und Wodka zu trinken.
Kid Rock – echt jetzt?
Als ich schließlich unter Höllenqualen ins Olympiastadion einlaufe, spielen sie ausgerechnet Kid Rock’s Säuferhymne: „Sipping whiskey out the bottle, not thinking about tomorrow, singing sweet home Alabama all summer long…“ Was für ein Hohn. Irgendeine Hostess hängt mir eine Medaille um den Hals, die Emotionen im Stadion kochen, 18.000 Läufer schweben im Nirwana der Glückseligkeit, nur ich gehöre nicht dazu. Ich war nach zwanzigjähriger Sportverweigerung 42,195 Kilometer durch gerannt und konnte keine Freude darüber empfinden. Ich hatte 4,32 Stunden gebraucht – 47 Minuten zu langsam! Marathon ist eine perverse Angelegenheit!
Der Olympia-Marathon findet am 10. August 2024 für Männer und am 11. August für Frauen statt. Die Strecke, die zwischen Paris und Versailles verläuft, soll eine Hommage an die französische Geschichte sein. Tausende Arbeiterfrauen hatten einst am 5. Oktober 1789 vor dem Pariser Rathaus gegen den Mehlmangel protestiert und sich infolge wütend nach Versailles aufgemacht, um dort König Ludwig XVI abzuholen. Ein Wendepunkt in der Geschichte der Französischen Revolution, denn als sie mit dem Herrscher nach Paris zurückkehrten, unterzeichnete dieser die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein kulturelles Statement, das neue Rekorde fast unmöglich macht, denn die Strecke beinhaltet einen Höhenunterschied von 436 Metern und eine Steigung von bis zu 13,5 %.
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