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Verfolgt und gefolgt

Podcast

Proteste in China. Seit Tagen demonstrieren Menschen im ganzen Land gegen die Null-Covid-Politik. Sie wollen ihre Freiheit zurück. Einige fordern sogar den Rücktritt von Xi Jinping. Sie organisieren sich über die Sozialen Netzwerke. So wie fast alles in diesem Land virtuell organisiert wird. Die Regierung weiß das zu verhindern. Protestaufrufe auf WeChat oder Weibo werden binnen kürzester Zeit gelöscht. VPNs werden von konfiszierten Smartphones gelöscht. Mit Erfolg. Ich habe mit Menschen in Provinzen gechattet, die nichts wussten von Protesten. Zumal diese auch lange nicht so massiv sind, wie sie hierzulande in den Medien dargestellt werden.

Die Covid-Zwickmühle

Wenn in einer 26 Millionen-Einwohner-Stadt wie Peking 3.000 Menschen auf die Strasse gehen, dann kann man nicht von einer Revolution sprechen. Und sie wird auch nicht stattfinden. Darüber sind sich auch wesentlich schlauere China-Kenner als ich einig. Nicht mal die strengen Covid-Restriktionen lassen sich einfach so revidieren. Da kaum jemand geimpft ist und auch keine natürliche Immunisierung stattfand, muss man mit mindestens 1,5 Millionen Covid-Toten binnen weniger Monate rechnen, wenn man jetzt alles aufmachen würde. Hinzu kämen unzählige schwere Fälle, die im Krankenhaus behandelt werden müssten. Das kann das chinesische Gesundheitssystem nicht stemmen. Panik und Proteste wären auch in diesem Fall vorprogrammiert. Eine blöde Zwickmühle. Peking wird daher wohl erstmal nicht viel ändern können. Sie werden bestimmt weiterhin hart durchgreifen. Da ist man gut beraten abzuwägen, in wiefern man sich bei den Protesten einbringt. Eine Entscheidung, von der die weitere Existenz abhängen kann.

Lynn's Profil auf Weibo

Vorbild für Millionen

Lynn hat sich entschieden. Ihr Herz schlägt zwar für die Protestbewegung, aber sie hält sich weitestgehend raus. Zum einen, weil sie bereits genug gelitten hat in ihrem jungen Leben. Und zum anderen, weil ihr Leben vergleichsweise kaum schöner sein könnte. Denn Lynn hat alles wovon Millionen von jungen Chinesinnen träumen. Sie ist schön, erfolgreich, glücklich verheiratet mit einem Westler und Mama eines süßen Mix-Babys. Eine Millionen Follower kleben der 25-jährigen daher an den Lippen, wenn sie auf Weibo erklärt, was Frau tun muss, um auch so zu sein wie sie. Lynn ist Bloggerin, oder auch Vloggerin, da sie Videos und keine Textnachrichten postet.

Weibo – das chinesische Twitter.

Ihre Plattform, Weibo, ist Chinas Antwort auf Twitter. Mit dem Unterschied, dass man dort nicht nur 140 Textzeichen, sondern auch Videos, Bilder, Spiele und Audios posten kann. Gegründet in 2009, just in dem Jahr, als westliche Social-Media-Kanäle in China verboten wurden, hat der Mikroblogging-Dienst sich ungehindert zu einer Größe entwickeln können, die mit 370 Millionen Usern, Twitter längst überholt hat. Schauspieler oder Sänger wie Chen Kun oder Yao Chen haben auf Weibo zwischen 80 und 90 Millionen Follower. Marken und Produkte, mit denen sich Key Opinion Leader auf Weibo zeigen, erregen unter Internetnutzern ein enormes Interesse. Einer Influencerin wie Lynn, rennen daher internationale Konzerne die Bude ein. Denn, den Kajal, das sie sich im Video auf die schmalen Augenlider aufträgt, wird mit Sicherheit auch bald die Augen ihrer Fans zieren.

Lynn genießt diesen Vorbildstatus. Nicht nur wegen des wirtschaftlichen Erfolges, den das mit sich bringt, nein, sie liebt es im Mittelpunkt zu stehen. Was der blond gefärbten Lynn an Körpergröße fehlt, das macht sie mit ihrem Temperament wett. Bereits nach zehn Minuten war ich ihrem Charme verfallen. Sie könnte ihren Job bestimmt überall auf der Welt erfolgreich ausführen.

Chinas Top-Unternehmer stammen oft aus Wenzhou.

Eine geographische Erbanlage, wie mir ihr Ehemann Maxim, 27, ein belgischer Fotograf, erklärt. Lynn stammt nämlich aus Wenzhou, der inoffiziellen Hauptstadt der Privatunternehmer in China. Über 90 Prozent der Firmen in der neun Millionen Einwohner zählenden Stadt in der südchinesischen Provinz Zhejiang, sind in privater Hand. Die Wenzhouer sind nicht nur in China, sondern auf der ganzen Welt als geschäftstüchtig bekannt.

Wer aus Wenzhou stammt, hat in der Regel ein Händchen für Geld.

Wenzhouer erobern die Welt.

Allein im toskanischen Prato, 20 Kilometer nordwestlich von Florenz, stellen sie mit fast 20.000 Emigranten zehn Prozent der Bevölkerung. Die vor allem für Textil- und Lederwarenfabrikation bekannten Wenzhouer hatten einst, wissend, dass im benachbarten Florenz Gucci und Prada sitzen, aufs richtige Pferd gesetzt. Heute fabrizieren sie von Prato aus, in gewohnter Billig-Manier, für die Luxuslabels, die sich dadurch das Made in China-Label ersparen. In NRW besitzen Wenzhouer mehrere Autohäuser. 70 % aller Chinesen in Spanien stammen aus Wenzhou. Über 250.000 leben in den USA und der Großteil der chinesischen Restaurants in New York sind fest in ihrer Hand.

Ich hatte Maxim bei einem Shooting für EyeBuyDirect in Shanghai kennengelernt.

Kein devotes Mäuschen.

Lynns Ehemann Maxim weiß so was. Er hat sich intensiv mit den Wurzeln seiner Frau auseinandergesetzt. Vielleicht auch, weil man den kleinen Wirbelwind sonst nicht versteht. Maxim spricht zwar mittlerweile sehr gutes Chinesisch und Lynn sehr gutes Englisch, aber die kulturellen Unterschiede sind zu groß, als dass man sie ignorieren könnte. Ein Westler, der eine Chinesin heiratet, ist gut beraten, sich mit ihrer Herkunft auseinanderzusetzen. Die gemeine Chinesin ist zwar anpassungsfähig und kann daher auch im West-Kosmos ihres Ehemannes funktionieren, aber die Probleme an der Seite eines solch devoten Mäuschens sind vorprogrammiert.

Nachts, wenn die Dämonen kommen.

Lynn ist alles andere als devot. Obgleich drei Jahre jünger und fast zwei Köpfe kleiner als Maxim, begegnet sie ihm auf Augenhöhe. Lynn versteht es sich Raum und Gehör zu verschaffen. Manchmal auch mehr als Maxim lieb ist, wie er gesteht, aber da er ihre Geschichte kennt, akzeptiere er das. Spätestens wenn Lynn nachts mal wieder schweißgebadet aus einem ihrer Albträume aufwacht und bei ihm Schutz sucht, dann wird er daran erinnert, dass seine Frau nicht nur eine freche Klappe hat, sondern dass in ihr auch ein verletztes kleines Mädchen wohnt.

Lynn war kein willkommenes Kind.

Lynn wurde nämlich lange nicht gesehen. Lynn wurde vor der Öffentlichkeit versteckt. Lynn war nicht gewollt. Sie hätte ein Junge werden sollen. Der einzige Grund, warum die Eltern im besonders restriktiven Süden der Volksrepublik, eine zweite Schwangerschaft riskierten, war der Wunsch nach einem männlichen Stammhalter gewesen. Eine Tochter hatten sie bereits. Mit der seien sie eigentlich glücklich gewesen, aber die Eltern ihres Vaters seien es nicht gewesen.

Der yéye, der Opa väterlicherseits, hatte Druck gemacht. Da Töchter bei Heirat das Haus verlassen, sah der seine Altersversorgung in Gefahr. Die Schreinerei des Vaters würde nicht übernommen werden und das Textilgeschäft der Mutter würde schließen müssen. Großes Drama in einer Stadt, in der fast jeder ein eigenes Geschäft besitzt. Zwei Kinder waren dort zwar auch nicht erlaubt, aber wenn man als zweites Kind einen Jungen zur Welt brachte, konnte man zumindest mit nachsichtigen Behörden rechnen. Aber eine zweite Tochter, das war inakzeptabel. Darauf standen hohe Strafen, soziale Ächtung und die Zwangssterilisation des Vaters, um zu verhindern, dass der sein Zeugungsglück immer weiter probiere. Lynn kam daher als Problem zur Welt. In einem entfernten Provinzstädtchen im Hinterland, wo man nicht viele Fragen stellte.

Lynn versteckt ihre Tochter nicht. Im Gegenteil.

„Meine Eltern durfte ich nur heimlich sehen.“

Als das Baby aus dem Gröbsten raus war, kehrte die Mutter nach Wenzhou zurück und versteckte das Problemkind bei ihrer Schwester am anderen Ende der Stadt. Dort lebte sie drei Jahre, ohne auch nur einmal das Haus zu verlassen. „Meine Tante war zwar sehr nett zu mir, aber ich wusste, dass sie nicht meine Mama war. Meine Eltern kamen mich nur am Wochenende besuchen. Und das auch nur nachts, damit das keiner mitbekam. Ich habe das alles nie verstanden und viel geweint.“

Unterm Bett versteckt.

Nach drei Jahren seien sie verraten worden. Nachbarn der Eltern hatten irgendwas mitbekommen und die Behörden verständigt. Die Eltern wurden verhört und das Haus von der Polizei durchsucht. Ohne Ergebnis. „Da haben sie meine siebenjährige Schwester am Ausgang der Grundschule abgefangen und sie gefragt, wo denn ihre kleine Schwester sei. Die hat sich natürlich nichts dabei gedacht, als sie den Polizisten sagte, dass ich bei der Tante wohnen würde.“ Lynn’s Mutter bekommt das mit und alarmiert die Schwester telefonisch. Die packt die kleine Lynn und versteckt sie bei den Nachbarn. Fünf Minuten später die Polizei bei ihr im Haus. „Die Nachbarn hatten mich unterm Bett versteckt und durchs offene Fenster bekam ich mit, wie das direkt angrenzende Haus meiner Tante auseinandergenommen wurde. Sie haben viel Lärm gemacht und meine Tante angebrüllt. Ich habe mir in die Hosen gepinkelt vor Angst. Ich habe die Situation noch genau vor Augen. Noch heute träume ich davon.“ Die Tante leugnet alles, aber das Kinderspielzeug in ihrem Haus ist für die Polizei Indiz genug, um ihre Verhöre fortzuführen.

Mit glühenden Zigaretten gefoltert.

„Als meine Eltern trotz der Beweislast meine Existenz nicht zugeben wollten, haben sie angefangen sie zu foltern. Sie wurden mit einem Gürtel geschlagen. Erst getrennt voneinander, dann gemeinsam. Als mein Vater schließlich zusehen musste, wie sie meine Mutter mit einer brennenden Zigarette bearbeiteten, ist er eingeknickt und hat alles zugegeben.“ Von dem Tag an sei ihr Vater nie wieder der Gleiche gewesen. Er war gebrochen. Die kurz darauf durchgeführte Vasektomie hatte er einfach über sich ergehen lassen. Er fühlte sich seiner Männlichkeit wohl ohnehin beraubt.

Mit 3.000 Follower im Gepäck reiste Lynn zum Studium nach Shanghai und hat mittlerweile 700.000 Follower.

Liebe auf dem Campus.

Wie anders ihre Familiengeschichte sei, das habe sie erst später an der Uni in Shanghai realisiert, erzählt Lynn. Vielleicht war es Lynns Entwicklung zuträglich gewesen, dass sie das alles erst im Studentenalter kapierte. Womöglich hätte der Zorn darüber sie sonst nicht zu so einer fröhlichen jungen Frau werden lassen. Eine Frau, die Freude an schönen Dingen hat und sich gerne hübsch zurecht macht. Lynn fällt gerne auf. Wen wundert’s. Und da die wirtschaftlichen Mittel des Elternhauses durch das ganze Drama gelitten hatte, hatte Lynn sehr viel Kreativität entwickelt, um sich modisch zu stylen. Da ihre Inszenierung bei Schulabschluss bereits 3.000 Follower auf Weibo begeisterte, lag es nahe, an der Uni kreatives Zeichnen und Schmuckdesign zu belegen. An der gleichen Uni wie Maxim. Der junge Belgier war im Rahmen seines internationalen Marketing-Studiums für vier Monate in Shanghai. Da Maxim auf dem Campus als talentierter Hobbyfotograf galt, hatte man ihn Lynn empfohlen, um ihre Abschlussarbeit, ein Schmuckstück, zu fotografieren.

Wer Lynn's Geschichte kennt, versteht, warum sie ihr Familienglück heute gerne inszeniert.

„Ein Franzose? Spinnst Du?“

Als sie ein Jahr später zusammenziehen, erzählt Lynn ihren Eltern zum ersten Mal von dem Franzosen. „Meine Eltern wollten es nicht glauben. Ein Franzose? Wirklich? Spinnst Du? Wenn du aus Wenzhou stammst, dann kommt eigentlich kein Partner aus einer anderen Stadt infrage. Erst recht kein Ausländer. Da habe ich ihnen gesagt: Ihr wollt eure Tochter doch glücklich sehen, oder etwa nicht?“

Wahrscheinlich können ihre Eltern ihr genauso wenig widersprechen wie Maxim. Der Franzose, der eigentlich aus Belgien stammt, aber egal, wird zum familiären Neujahrsfest geladen. „Das ist ein großes Ding bei uns Zuhause. Wenn die Tochter an Neujahr einem Mann mitbringt, dann ist das wie ein Heiratsversprechen. Den Nachbarn haben meine Eltern erzählt, dass Maxim mein Englischlehrer sei. Natürlich hatten wir getrennte Schlafzimmer. Der arme Maxim wusste nicht, wie ihm geschah. Er sprach kein chinesisch und meine Eltern kein Englisch. Irgendwie haben meine Eltern ihn dann doch akzeptiert. Vielleicht auch weil sie sahen, wie glücklich ich mit ihm war.“

Für die ältere Schwester hatten sie zuvor zwei Jahre lang eine Hochzeitsagentur engagiert, bis der richtige Ehemann gefunden war. „Das ist üblich bei uns. Und meine Schwester hat tatsächlich einen Mann vermittelt bekommen, mit dem sie sehr glücklich ist.“ Außer Haus natürlich. Bei den Schwiegereltern. Das Problem würde sich mit dem Franzosen nicht stellen. Maxim wollte nicht zurück nach Europa. Er hatte seine Marketing-Pläne längst aufgegeben und hatte seine Leidenschaft zum Beruf gemacht. Maxim ist zu einem gutgebuchten Modefotografen in Shanghai avanciert und hat nicht vor China wieder zu Verlassen.

Baby mit eigenem Instagram.

Seinen Antrag machte Maxim der schwangeren Lynn zwar im Heißluftballon über dem französischen Massive Central, aber ihre standesamtliche Trauung fand in China statt. Der Franzose war daher mehr als willkommen, da er der Familie nicht die Tochter raubte. Und dass die kleine Mix-Familie später mal für Lynns Eltern sorgen können, daran besteht auch keinen Zweifel. Das könnte mittlerweile sogar Enkeltochter Lilly stemmen. Lilly wird von ihren Eltern nämlich nicht versteckt. Lilly ist bereits mit acht Monaten ein gutbezahltes Werbe-Model. Natürlich mit eigenem Social Media Account. Lilly hat über 70.000 Follower.

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